„Lernen am dritten Ort“, heißt das Konzept, das Goetheschüler aus Wetzlar und Ilmenau (Thüringen) immer wieder zusammenführt. Zwischen den Schulen besteht eine langjährige Partnerschaft. Jetzt haben sich zwei Gruppen für einen dreitägigen Workshop an Point Alpha getroffen, also an der ehemaligen innerdeutschen Grenze. In Begleitung der Wetzlarer Lehrer Ulrike Rau und Holger Sturm sowie der Ilmenauer Lehrer Silvia Otto und Volker Rempt erlebten sie ein Stück deutscher Geschichte hautnah.  

21 Teenager, neun aus dem Westen, zwölf aus dem Osten treffen sich an Point Alpha - an der innerdeutschen Grenze, die einst unüberwindbar schien. Hier sind sie zusammengekommen, um 50 Jahre nach dem Mauerbau zu erleben, was es heißt, wenn ein Ort Geschichte atmet. Und was es heißt, Menschen zu begegnen, die von dieser Geschichte geprägt, manchmal auch gezeichnet sind.

Zwischen Geisa (Thüringen) und Rasdorf (Hessen) ist die Grenze rekonstruiert. Es gibt den Sperrgraben für Kraftfahrzeuge, den Kolonnenweg und die Hunde-Laufanlage. Vom ehemaligen US-Beobachtungsturm schweift der Blick zwischen den zwei Ortschaften der zwei Bundesländer hin und her. „Wo genau verlief die Grenze?", fragt Sven Müller von der Point Alpha Stiftung die Schüler. Es ist gar nicht so einfach, die zu finden, denn neben dem komplexen Aufbau war sie auch auf DDR-Gebiet so weit zurückversetzt, dass dahinter ein „Abfangstreifen" blieb.

Point Alpha, erklärt Sven Müller auf dem zugigen Turm, war rund um die Uhr mit Soldaten besetzt. Bis zu 200 Amerikaner waren hier auf westlicher Seite stationiert. Der Ort, von dem man glaubte, hier könnte der dritte Weltkrieg beginnen. Von hier hätten es die Truppen des Warschauer Paktes nicht weit gehabt bis nach Frankfurt, dem Luftverkehrs-Kreuz (siehe auch Info-Grafik). Entsprechend wichtig war es der NATO, an diesem Ort genau hinzusehen. In Blickweite sieht man auch noch den Überwachungsturm der DDR.

Der Zaun ist der Ort, an dem die Wetzlarer Stadträtin Sigrid Kornmann den Schülern einen der Gründe erklärt, warum sie die Begegnung über die Friedrich-Naumann-Stiftung mit initiiert hat: „Ich hatte Freunde in Ost-Berlin und habe erlebt, wie verletzend es war, sie abends ab einem bestimmten Punkt nicht mehr weiter mitnehmen zu können."

Wetzlar in Mittelhessen und Ilmenau in Thüringen sind nach der Wiedervereinigung Partnerstädte geworden. Beide Gymnasien, von denen die Schüler der 10. bis 13. Jahrgangsstufe kommen, tragen den Namen „Goetheschule". Auch zwischen den Schulen ist der Kontakt eng und es gab in der Vergangenheit schon viele gemeinsame Veranstaltungen. Diese Gruppe also ist die erste, die für drei Tage die neuen Räume der Point Alpha Akademie im Schloss Geisa bezieht.

Im Mittelpunkt des Projekts steht nicht nur ein historischer Ort, sondern es geht auch um Schicksale. Die Schüler begegnen Zeitzeugen, die die Erinnerung an das DDR-Unrecht wachhalten wollen: Liedermacher Stephan Krawczyk etwa oder Luise Tröbs, die als Zehnjährige aus Geisa zwangsausgesiedelt wurde.

Diese und andere Begegnungen werden einfließen in die Arbeit der Schüler an einer Ausstellung, die sie gemeinsam erarbeiten. Die Gedenkstätte Point Alpha, das Museum im „Haus auf der Grenze", die Akademie - ein Fundus für die Recherche.

Sarah Wojcik, Jana Schütz, Lissi Reske und Meike Dettmar breiten einen Stapel Stasi-Akten vor sich aus. Es geht um die Flucht der beiden Schüler Olaf und Olli - einer wird verhaftet, einer erschossen. „Diese Akten sind auf der einen Seite eine total detaillierte Dokumentation der Ereignisse", stellt Sarah fest. Wenn es dann aber beispielsweise konkret um den Tod des Jungen gehe, sei nur noch davon die Rede, dass er eine Straftat begangen habe und „Maßnahmen" eingeleitet worden seien.

Philipp Trümper, Isabelle Gerz, Josefine Möller und Annika Bode haben bei der Beschäftigung mit Fluchten aus der DDR einen spektakulären Fall gefunden: „Die Leute waren zum Teil auch sehr kreativ, einer ist sogar 25 Stunden durch die Ostsee geschwommen", erzählt Isabelle.

Die Schüler aus Mittelhessen und Thüringen wollen ihre Erlebnisse und Begegnungen weitertragen. Ihre Ausstellung mit dem Titel „Wie wir wurden, was wir sind" soll am 18. November im Pressehaus in Wetzlar eröffnet werden.